Schnitzlers Schrift
Die Transkriptionsprobleme bei Schnitzlers Manuskripten kommen nicht von ungefähr. Seine Handschrift gilt als notorisch unleserlich. Schon seine Zeitgenossen pflegten darüber zu klagen. Sein Freund Richard Beer-Hofmann etwa schrieb am 12. September 1899: „Lieber Arthur! Ihre Karte gestern, heute Ihren Brief vom 9. erhalten. Ich habe ihn mehr errathen als gelesen.“ Der Berliner Regisseur Otto Brahm wiederum ließ Schnitzler wissen: „Was Sie mir über Reinhardt freundlichst anvertrauen, wird umso mehr ‚unter uns‘ bleiben, als ich es nur zum Teil entziffern konnte“ (17. 9. 1905). Und einem Brief ihres Mannes an denselben Brahm fügte Olga Schnitzler folgenden Nachsatz an: „[…] der Brief meines Gatten ist, ich versichere Sie, von sprühendem Witz, es ist nötig, das zu sagen, denn Sie werden ihn nicht lesen können“ (3. 5. 1908).
Die Entzifferungsschwierigkeiten sind vielfältig. Zum einen schrieb Schnitzler vor allem seine Werkmanuskripte mit weichem Bleistift auf inzwischen vergilbendes Papier, so dass das Schriftbild immer unkonturierter wird. Zudem veränderte sich sein Schriftduktus natürlich über die Jahre – bis Schnitzler 1917 schließlich überhaupt von der Kurrent- zur Lateinschrift wechselte. Aber gravierender sind folgende Probleme:
1. Rechtschreibung:
Schnitzlers Manuskripte bilden die zeitgenössischen Turbulenzen um die betreffenden Schreibreformen exakt ab. Die Zweite orthographische Konferenz von 1901 hatte, nicht nur bei ihm, Schreibunsicherheiten ausgelöst. Deren Beschlüsse sahen beispielsweise vor, das anlautende „Th“ (z. B. in „Thal“ oder „Thier“) fallen zu lassen; Fremdwörter sollten „deutscher“ geschrieben werden (also „sozial“ statt „social“). Bei Schnitzler gibt es daher oft verschiedene Schreibungen nebeneinander:
Clavierlection | Klavierlektionen
– auch Klavierlectionen |
Gelegentlich markierte Schnitzler Wortfugen durch einen Abstand, der insbesondere nach einem Präfix mit „u“ auftritt:
(um_armt sie.) | (zu_widres Wort) |
2. Kurrent- und Lateinschrift:
Die im Fraktur-Druck übliche Praxis, Fremdwörter zumindest romanischer Sprachen in Antiqua zu setzen, bildet Schnitzlers Handschrift ab – allerdings nicht konsequent: Im folgenden Beispiel finden sich „Bosendorfer“ und „Bibelots“ in Latein-, „Portièren“ und „bouquets“ in Kurrentschrift – wobei aber das Wort „Portièren“ einen französischen ‚accent grave‘ trägt:
Er. Kein Salon mit
schweren Portièren, Makart- bouquets, Bosendorferflügel, Bibelots, . . . Leucht- |
3. Streichungen und Überschreibungen:
Ob als Sofortkorrekturen, ob als nachträgliche sorgfältige „Feile“ – die Überarbeitungen der Manuskripte lassen die erste Schreibschicht oft kaum mehr erkennen:
[img zu bringtklopftopft] |
4. Indistinkte Graphe:
Das Hauptproblem bei der Entzifferung ist jedoch die Ununterscheidbarkeit von Graphen. Das beginnt beim Fortfall von Diakritika wie den „i“- und Umlaut-Punkten (wie oben bei „Bosendorfer“, recte: Bösendorfer), des „u“-Überstrichs oder des „n“- und „m“-Makrons. Bei Allographen wie „D“/„d“ und „H“/„h“ lässt sich oft nicht feststellen, ob Groß- oder Kleinschreibung intendiert war. Dazu kommt die Tendenz, einzelne Graphe in den vorausgehenden oder nachfolgenden gleichsam verschwinden zu lassen, im Wortinneren etwa die nur aus Auf- und Abstrich bestehenden Buchsta¬ben „i“ und „c“, vor allem in Di- oder Trigraphen wie „ie“, „ch“ und „sch“. Vor allem weisen bereits ähnliche Grapheme des Kurrentschriftsystems wie „e“ und „n“, „l“ und „t“ oder „s“ und „h“ in Schnitzlers Handschrift häufig keine distinkten Merkmale auf. Im folgenden Beispiel etwa bezeichnet derselbe Graph die Grapheme „s“, „H“, „G“, „f“ und „h“:
heißts … rabiat sein. Hand von dem Griff nicht weg .. Nur |
4. Verschleifungen am Wortende:
Vor allem am Wortende schließlich werden Buchstaben gänzlich verschliffen. Schnitzler beherrschte – anders als etwa Richard Beer-Hofmann – keine Stenographie; dennoch wirken etwa Suffixe wie „-ing“ und „-ung“ häufig kurzschriftartig zusammengezogen. Endungen wie „-er“ oder „-en“ werden oft zu Horizontalstrichen oder abschwingenden Bögen:
Zeitungen. Heutige Zeitungen liegen schon |
Mitunter trifft sich dieser Schriftduktus mit der mundartlicher „Verschleifung“, etwa der Elision am Wortende:
Mundartliche und graphische Verschleifung des Wortes „Kappe“ (wienerisch „Kappl“) |
Manche Stellen erfordern daher Dechiffrierkunststücke: